„Schreib das jetzt auf, du Spast!“ Die dunkle Seite des Ronny Ritze. Ein Schreibtrainer in Extremsituationen

Gefängnismauern, Gewalt und gescheiterte Jugendliche. Viele von uns wollen damit nichts zu tun haben. Ronny Ritze macht es anders. Er geht in Jugendstrafanstalten oder arbeitet mit Schulabbrechern, zeigt ihnen, wie sie ihre Erlebnisse in Tagebuchform oder als Biografie aufschreiben können. Und entdeckt dabei unglaubliche Dinge über sich selbst, das Leben und was es wirklich ausmacht.

1. Du hast dir als Autor und Trainer eine spezielle Zielgruppe ausgesucht: Jugendliche mit besonderen Anforderungen, Schulverweigerer, Strafgefangene. Wie kam es dazu?

Ich glaube, dass man sich diese Jobs nicht wirklich aussucht, sondern dass sie einen finden. Ich war selbst an einem Punkt, an dem ich nicht mehr weiter wusste. Ich wollte im Büropark am Erfurter Flughafen sitzen und einen Verlag führen, mit mindestens 30 Angestellten. Und vielen Kontakten zu Radio und Fernsehen. Dann schlug ich auf dem Boden auf und landete bei den Schulabbrechern und im Gefängnis. In der Zeit, in der ich mit den Jugendlichen gearbeitet habe, habe ich mich auch ein Stück weit hinterfragt. Ich bin von sehr weit oben sehr weit nach unten gefallen. An meinem ersten Tag im Schulabbrecher-Projekt zum Beispiel dachte ich noch, das wird die Hölle auf Erden, und nun, ein halbes Jahr später, bin ich sehr berührt von den Entwicklungen, die wir genommen haben. Die Jugendlichen wachsen einem ans Herz. Sie haben mir die Augen geöffnet, für das Eigentliche im Leben.

2. Welche Dinge hast du da für dich erkannt?

Einen gerechteren Umgang miteinander und dass man sich immer auf Augenhöhe begegnet. Ganz andere Werte rücken in den Vordergrund. Wenn du dich dann eher auf den Moment und nicht mehr auf die Termine konzentrierst, die Selbstverwirklichung, das Materielle, sondern dir der Umgang untereinander wichtiger ist, wird man ein Stück weit zurückhaltender. Akzeptanz und Wertschätzung sind zwei ganz große Stücke. Ich habe mich auf kleinere Ziele ausgerichtet. Ich hatte bis dahin größere Ziele, größenwahnsinnige Ziele. Es war alles schön glitzernd, toll. Und es hat ja auch funktioniert. Aber es war viel zu weit weg.

Ich habe mich auch dazu entschlossen, dass ich nur noch einen Einzelnen helfen will und manchen Hilfsbedürftigen vorüberziehen lasse. Warum? Weil ich gelernt habe, meine Kraft und Energie auf die zu fokussieren, mit denen ich gerade zusammen arbeite. Man kann nicht allen helfen. Wenn ich eine Gruppe von acht Jugendlichen habe, dann bleiben vielleicht drei, bei denen was hängenbleibt. Der Rest zieht vorbei. Damit muss man rechnen. Aber auf die drei muss ich mich dann fokussieren. Auch wenn’s hart ist. Das ist der Unterschied zu manch anderen Projekten, die staatlich finanziert werden, und wo es dann heißt, man habe einer ganzen Klasse geholfen. Man sollte seine komplette Kraft in diejenigen reinstecken, die man eventuell kriegt.

3. Welche Eigenschaften sollte man mitbringen?

Ich möchte es niemandem absprechen, aber warne klar davor, wenn man nicht selbst ein bisschen verrückt ist und das nötige Durchhaltevermögen aufbringt, sollte man es nicht probieren. Nur um es vielleicht mal in der Vita stehen zu haben oder ein Sozialprojekt zu machen, weil es Geld dafür gibt. Damit kann man den Jugendlichen mehr schaden als nutzen. Und sich selbst. Sie wissen vielleicht nicht, was man groß und klein schreibt oder wo man ein Komma setzt. Aber sie merken, ob man es ernst mit ihnen meint. Es geht um langfristigen Beziehungsaufbau.

Außerdem muss man die große Klappe haben. Das darf auf keinen Fall einschlafen. Und manchmal schreit man die Jugendlichen auch an. Und dann muss man sich selbst reflektieren und sich wieder zusammenreißen. Sowieso herrscht mit diesen Kids ein ganz anderer Ton.

Ein Beispiel: Markus, 15 Jahre, Schulabbrecher, extrem schulaversives Verhalten. Kiffen ist sein absoluter Lebensinhalt. Dieses Projekt ist die einzige Konstante in seinem Leben. An einem Tag hatte er eine tolle Idee für zwei Sätze.

Ich: „Schreib die Sätze auf.“
Er: „Nein.“
Ich: „Bitte, schreib sie auf.“
Er: „Nein.“
Ich: „Ich vergesse sie, du vergisst die auch, also schreib sie auf.“
Er: „Nein, lass mich zufrieden.“
Ich: „Du kleiner Kunde, ich mach gleich das Fenster auf und schmeiß dich raus, du Vogel! Schreib das jetzt auf, du Spast!“
Markus schaut mich an, seine Augen beginnen zu leuchten: „Cool!“ Er nimmt sich sein Heft und schreibt. Das ist bei vielen der Ton, den sie von zu Hause kennen. Und dem passe ich mich ein Stück weit an. Und es funktioniert.

4. Was braucht man noch?

Man braucht auf jeden Fall einen gewissen Toleranzbereich, nicht nur gegenüber den Schülern. Außerdem gibt es vier Eigenschaften, die unbedingt dazu gehören. Zum Beispiel Respekt vor der Person – nicht der respekteinflößende Strafgefangene, sondern der Mensch mit seiner Geschichte. Auch muss man die Literatur und den Text lieben. Drittens braucht man eine Grenze zwischen sich selbst und ihnen. Der Andere muss wissen, dass er den Spielregeln zu folgen hat, die du vorgibst. Dabei geht es um Regeln des sozialen Miteinanders. Wenn einer nicht mitspielt, kann man abbrechen und denjenigen bzw. diejenige rausschicken oder rausholen lassen. Das passiert leider auch.

Weitere Dinge werden noch nicht verraten. Denn ich arbeite gerade daran, die Methodik aufzudröseln: Das wird in meinem neuen Buch „Texttäter“ passieren. Ein erzählendes Sachbuch zur Arbeit mit Randgruppenliteratur. Wer es genau wissen will, kann auf „Texttäter“ gespannt sein.

5. Wie gestaltet sich die Werkstatt? Kannst du vielleicht schon ein, zwei Beispiele nennen?

Ich kann alles Mögliche an Textformen wählen. Mit einer Gruppe machen wir Rap. Dafür haben wir einen Rapper dazugeholt, der den Jugendlichen erklärt, wie man das macht. Mein Steckenpferd ist aber die Arbeit mit Figuren.

In dem halben Jahr mit den Schulabbrechern gestaltete sich das so: Wir haben eine Figur entwickelt, Chantal, die komplett depressiv war, sich geritzt hat, am Boden war, in der Psychiatrie. Diese Figur haben sich die Jugendlichen ausgedacht. Und von jedem der Teilnehmer steckte ein wenig in ihr. Diese Chantal hat sich jetzt, ein halbes Jahr später, zu einer lebensbejahenden Figur entwickelt, die ein Kind bekommt, eine Ausbildungsstelle. Es ist ein positiv besetzter Charakter geworden und mit ihr haben wir jetzt eine Geschichte geschrieben.

6. Welche Erlebnisse innerhalb einer deiner Schreibgruppen haben sich dir besonders eingeprägt?

Oh… warte…. Da ist Jessi. Sie ist ein bisschen wie die Chantal aus „Fack ju Göthe“. Sie hat das Schreiben für sich tatsächlich durch die Werkstatt entdeckt und hat zu Hause angefangen, weiterzuschreiben. Sie hatte die Schule verweigert, auf Grund von Mobbing. Und jetzt, nach einem halben Jahr in dem lockeren Erfurter Schulabbrecher-Projekt „Cool II“, hat sie eine Ausbildungsstelle. Das ist toll!

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Und eine zweite Geschichte: In einer Werkstatt im Gefängnis hat mich ein 24-Jähriger mal mit großen Augen angesehen und wusste gar nicht, was er sagen sollte. Weil ich ihm gegenüber ehrlich war. Wie ein Freund. Obwohl er nicht mein Freund ist. Aber weil ich ihn wie einen Kumpel behandelt habe. Das war heftig. Er hat 24 Jahre auf dieser Erde verbracht, ohne irgendjemanden zu treffen, der mal ehrlich zu ihm war. Und damit kam er nicht klar.

7. Was willst du bei bzw. mit diesen jungen Menschen erreichen?

Erreichen? Vieles. Aber bitte nicht falsch verstehen! Man darf auf keinen Fall einen Überbau planen, d. h. dass man sagt, wir brauchen ein konzeptionelles Ergebnis, eine Broschüre oder eine Abschlusszeitung. Das funktioniert nie. Man muss den Raum möglichst offen lassen für die Ideen der Jugendlichen, ein sehr geschicktes Händchen haben und verschiedene Projektpartner mit einbeziehen. Zum Beispiel einen Musiker, einen Menschen, der sprayen kann, Percussions oder so. Klar arbeitet das in mir als Kursleiter: „Wir brauchen Ergebnisse, wir brauchen Ergebnisse“. Denn ich lebe ja davon. Aber ich würde nie ein Ergebnis voraussetzen. Dazu trete ich nicht an. Und ich mache das, zumindest im Strafvollzug, bereits das zweite Jahr.

8. Über welche Themen sprichst du mit den Jugendlichen?

Es gibt verschiedene Themenvorschläge, die man bearbeiten könnte. Wenn der eine nicht funktioniert – weg. Gleich den nächsten. Ich habe in der Zwischenzeit über Schwangerschaft mit 14, den ersten Mietvertrag, den Gang zum Arbeitsamt und über die Schalterfrau geredet, die da sitzt, und wie sie drauf sein könnte. Auch Drogengeschichten, Drogenprävention, Verhütung. Das sind Themen aus ihrer Lebenswelt. Diese Jugendlichen sind schon am Rand der Gesellschaft. Man sollte auf Grenzüberschreitung gefasst sein, auch auf Gewalt. Gewalttätige und gewaltverherrlichende Texte, Hass auf die Justiz und die Obrigkeit.

Strafgefangene haben mit weiteren Dingen zu kämpfen: Entzugssymptomatik, Depressionen, Ängste und Zwänge. Sie gehen wesentlich erwachsener an diese Themen, haben mehr Disziplin, weil sie im Resozialisierungsprozess sind. Sie wollen sich stellenweise entwickeln. Die Jugendlichen, die noch draußen sind, machen das nicht. Wenn die ihre Strafstunden irgendwo nicht abbummeln, wandern sie in den Bau: bis zu vier Wochen Jugendarrest. Ein Warnschuss, sozusagen. Leider sind 80 Prozent, die im Jugendarrest einsaßen, auf jeden Fall später im richtigen Jugendstrafvollzug. Bis dahin haben sie noch die große Klappe, und dem muss man sich anpassen.

Und auch wenn die jugendlichen Schulabbrecher oder Strafgefangenen einen sehr entwickelten Eindruck machen, weil sie zum Beispiel auf der Straße leben oder gelebt haben, muss man bei der Themenwahl daran denken, dass sie vielleicht erst 15/16 Jahre alt sind.

9. Inwieweit kannst du Wissen über Literatur und das Schreiben weitergeben?

Ich kann ein paar Sachen einbauen, zum Beispiel Erzählperspektiven. Oder ich habe Strafgefangenen beigebracht, wie man einen direkte in eine indirekte Rede umwandelt. Man sollte auf keinen Fall das Wort Konjunktiv verwenden, sondern es auf das Simpelste runterbrechen. Das klappt auch. Aber man sollte es nicht übertreiben. Es ist wichtig, mehr das Spielerische in den Vordergrund zu stellen, zum Beispiel „Galgenmännchen“.

Ein Halbsatz über Theorie kann schon zu viel sein. Sie sind damit komplett überfordert. Auch beim Schreibmaterial muss ich kreativ sein. Alles, was mit Zettel und Papier, mit Kreide und Tafel zu tun hat, lehnen sie ab. Also habe ich vor kurzem eine Küchenrolle über die Tafel gespannt oder habe sie auf Butterbrotpapier mit Fettstiften schreiben lassen. Demnächst werden sie auf einem Spannbettlaken sprühen. Ich probiere alles, damit sie einen Zugang zum Schreiben finden.

10. Kurz bevor wir zum Ende kommen, die Frage: Wie gestaltet sich die Zusammenarbeit mit den Behörden?

Insgesamt läuft die Zusammenarbeit gut. Man wünscht sich manchmal weniger Bürokratie, gerade wenn es um Anträge für Fördergelder geht. Bei guten Projekten ist das meist hinderlich, denn die Antragsteller, die Projektleiter, sie resignieren. Auch die Schulen resignieren, wenn sie solch ein Projekt machen wollen und dann vor 150 Seiten Antragswulst sitzen. Die beste Zusammenarbeit habe ich bis jetzt mit dem thüringischen Justizministerium erlebt. Sie finden gut, was mit den Strafgefangenen passiert.
Ronny_Ritze_im_Gefaegnis
Auf der anderen Seite ist es auch richtig, ein Kontrollsystem zu schaffen, ein bisschen zu überwachen. Damit nicht jeder einfach sagen kann, gib mir 3000 Euro und dann führe ich ein Projekt, zum Beispiel mit traumatisierten Flüchtlingskindern, durch. Da kann in den Kindern unter Umständen mehr kaputt gemacht werden, als eh schon kaputt ist.

11. Und zum Schluss: Welche Reaktionen bekommst du von den Jugendlichen?

Alles, was mit Schule zu tun hat, finden sie anstrengend. Aber jetzt, nachdem zum Beispiel das Schulabbrecher-Projekt zu Ende gegangen ist, wollten sie mich nicht gehen lassen. Ich hab auch einen neuen Namen: der Lolli-Ronny. Im Großmarkt hatte ich 2000 Lollis gekauft und diese immer als Belohnung verteilt. In den Beurteilungsbögen, die ich ausgeteilt habe, steht durchweg bei den Verbesserungsvorschlägen: „Mehr Lollis, mehr Lollis“.

Vielen Dank für das Gespräch, Ronny. Weitere Informationen findet ihr auf www.ronnyritze.de

Hinweis: Personenbezogene Daten wurden anonymisiert.

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